Der Tote Wald – oder: der Tag an dem Wolfgang verschwand

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Wir durften ausschlafen. Frühstück gibt es erst um 10:00 Uhr. Darüber bin ich dankbar, froh und glücklich – und als der Wecker klingelt, geht es mir richtig gut. Jedenfalls, bis ich den ersten Fuß aufsetze, um einen Schritt vors Zelt zu machen. Halleluja! Ich muss über Nacht so um die 60 Jahre gealtert sein – es gibt unterhalb des Halses nichts, was mir nicht weh tut. Ganz besonders böse wird es ab Kniehöhe. Himmel! Mein rechtes Knie ist leicht geschwollen, der rechte Knöchel auch. Hurra :)

Zum Frühstück hat Tanja dafür die perfekte Medizin: sie hat Aladuschki (Оладушки) gezaubert, eine Art Mini-Pfannkuchen aus Buttermilch. Außerdem gibt es auch noch Rührei und Obst. Das Wetter heute… na ja, durchwachsen. Der Himmel ist wolkenverhangen und es nieselt immer mal wieder. Offensichtlich war Antons Entscheidung goldrichtig, gestern direkt auf den Tolbatschik zu gehen. Gestern Abend war übrigens noch eine weitere Gruppe angekommen, die nun ebenfalls die Hütte nutzte. Heute Abend wiederum sollte noch eine weitere kleine Gruppe dazukommen. So langsam wird es gesellig hier.

Wir fahren zunächst ein Stück mit dem Kamaz und kommen an einem Hubschrauber vorbei, der nur noch zum Teil aus der Vulkanasche guckt. Was sich nach einem spektakulären Absturz aufgrund einer Vulkaneruption anhört oder so – ist in Wahrheit nur ein verlassener und dann von der plötzlichen Vulkanasche bedeckter Hubschrauber. Klarer Fall von „zur falschen Zeit am falschen Ort“, aber zum Glück halb so wild. Gibt trotzdem einen kurzen Fotostopp her, bevor es noch ein kleines Stück weitergeht.

Der Plan für heute sieht vor, dass wir einen der Vulkankegel vom Ausbruch 1975/76 besteigen. Derer gibt es drei nebeneinander – und eigentlich wollten wir auch zwei davon besteigen – aber mangels Aussicht streichen wir den einen und besteigen nur den Kegel Nummer 2. Der braucht nämlich keine Aussicht zum Spannend sein, denn seine Lava leuchtet in den schillerndsten Farben. Sagt Anton. Der Aufstieg ist kurz und knackig, aber dank Anton, der wieder ein hervorragendes Tempo vorgibt, gut zu meistern. Sogar mein Knie und mein Knöchel geben das Protestieren irgendwann auf und fügen sich ergeben in ihr Schicksal. Der leichte Nieselregen kann uns auch nicht wirklich ärgern – schließlich sind wir in Kamtschatka und haben nicht wirklich mit Dauer-Sonnenschein gerechnet.

Auf dem Berg angekommen lernen wir von Anton (Regina übersetzt wieder) eine Menge über Vulkanismus und den hiesigen Ausbruch (der sich wiederum von dem gestern am Tolbatschik unterscheidet). Aus diversen kleinen Löchern und Spalten dringt Schwefelgeruch und es steigt warmer Rauch auf. An einem dieser kleinen Löcher führt Anton eine kleine Show vor: er steckt trockene Zweige und ein bisschen Klopapier ins Loch – und wartet. Nach nicht mal zwei Minuten hat das Papier plötzlich Feuer gefangen und in dem Loch ensteht ein kleines „Lagerfeuer“. Jepp, wir glauben ihm, dass das hier alles noch aktiv ist ;)

Wir schauen uns auf dem Vulkankegel weiter um – und Anton soll Recht behalten. Die unterschiedlichsten Gesteine leuchten hier überall in den schönsten Farben. Ok, gelegentlich stinkt es ziemlich nach Schwefel und an diversen Stellen kommt ordentlich warmer Dampf aus winzigen Löchern in der Erde. (Man sollte im Interesse seiner Haut dem Drang widerstehen, die klammen Hände darüber zu wärmen… auch wenn es wirklich verdammt einladend ist.)

Vom Vulkankegel wieder runter und am Kamaz angekommen, könnten wir jetzt einsteigen und zurück zum Lagerplatz fahren. Da der Tag aber noch jung und das Wetter einigermaßen stabil ist, entschließen wir uns, die gut fünf Kilometer zurück zu laufen. Eine einmalige Gelegenheit, dem Toten Wald mit der Kamera ganz nah zu kommen.

Wir laufen über endlos scheinende Vulkanasche-Hügel, auf denen vereinzelte kleine Blümchen wachsen. Am Horizont sind die Baumgerippe des Toten Waldes zu sehen.

Kurz vor hat dem Toten Wald hat Simon noch eine Idee und zusammen mit Jak werden wir kurz mal kreativ:

Die anderen sind inzwischen längst am Toten Wald angekommen und so sputen wir uns, hinterher zu kommen. Wir lernen, dass die Baumgerippe, die wir hier sehen, lediglich die Spitzen der Bäume sind, die hier mal standen. Die Vulkan-Asche, auf der wir laufen, liegt hier ungefähr drei Meter hoch.  

Wir spazieren zurück ins Lager – und vermutlich hat Anton für diesen Weg noch nie so lange gebraucht wie heute. Es bleibt nämlich erfreulich trocken und wir haben neben Mama und mir offenbar noch ein paar mehr Foto-Fanatiker in der Gruppe – und so wird jede Gelegenheit, die sich bietet, auch genutzt. Irgendwann kommen wir aber natürlich im Lager an.

Bis zum Abendessen vertreiben wir uns die Zeit mit Quatschen in der Hütte und genießen dann eine warme Suppe, Hühnchen und Reis von Tanja. Während des Abendessens kommt plötzlich leichte Unruhe in der Hütte auf… unsere Mannschaft diskutiert miteinander, die Funkgeräte kommen zum Einsatz… und irgendwas scheint offensichtlich schräg zu sein. Dann erklärt uns Regina, was los ist: in der anderen Gruppe (übrigens auch aus Deutschland, aber ein anderer Veranstalter) wird ein Mitreisender vermisst. Anscheinend war die Gruppe ebenfalls an den Vulkankegeln und ist zurück gelaufen. Bis auf Wolfgang, der mit dem Kamaz zurückgefahren ist, um im Lager etwas zu fotografieren. Als die Gruppe nun zurück ins Lager kam, war Wolfgang nicht da – und tauchte auch nicht wieder auf.

Nun muss man wissen, dass Anton und Regina uns bereits gestern eingebläut haben, dass wir uns in Bärenland befinden und tunlichst niemals außer Sichtweite gehen sollten. Was geht einem also durch den Kopf, wenn jemand über Stunden nicht wieder auftaucht? Richtig… alle möglichen Horrorszenarien. Verlaufen, verletzt, vom Bären gefressen…?

Inzwischen droht es, draußen dunkel zu werden. Die Funkgeräte laufen heiß, Signalraketen werden in den Himmel geschossen und sämtliche Einheimische, also unsere Mannschaft zusammen mit den Mannschaften der beiden anderen Gruppen bereiten sich auf einen Sucheinsatz vor. Da Tanja immer noch dienstbeflissen in der Küche werkelt, erklären wir Regina, dass wir heute das Spülen selbst übernehmen – schließlich wird hier gerade jeder, der Russisch spricht und die Gegend kennt, für Wichtigeres gebraucht.

Wir kümmern uns um die Küche, während die Mannschaft in Zweierteams in alle Himmelsrichtungen aufbricht. Anschließend suchen wir draußen Holz zusammen – möglichst nasses, damit es anständig raucht. Wir haben keine Chance, Wolfgang zu sehen – aber wir können Wolfgang zumindest eine Chance geben, uns zu sehen. Wenn es ihm denn nützt.

Auf einmal bricht wiederum Unruhe aus. Adrian hatte der zuletzt angekommenen Gruppe – ein Trupp von vier Amis, die also kein Deutsch verstanden und überhaupt nicht wussten, was los ist – erzählt, worum es gerade geht. Daraufhin hatte die Lady, mit der er sprach, das Ganze dem Rest ihrer Truppe erzählt – woraufhin einem davon einfiel, dass er heute unterwegs (ebenfalls bei den Vulkankegeln) von einer Art Ranger angehalten und gefragt wurde, ob er diesen Kerl hier kenne, der hätte seine Reisegruppe verloren. Der Ami kannte Wolfgang aber natürlich nicht, woraufhin die Ranger ihn wieder mitgenommen haben.

Diese Information ändert natürlich alles. Wolfgang ist weder verloren, noch verletzt oder vom Bären gefressen – sondern in der Obhut eines Rangers. Offen bleibt die Frage, wo er denn jetzt abgeblieben ist. Aber so arg viele Lager gibt es im Umkreis nicht. Nichts also, was sich nicht mit dem Kamaz herausfinden lässt.

Regina ruft per Funk unsere Suchtrupps zurück – und die Suche wird mit dem Kamaz bei den umliegenden Lagern fortgesetzt. In der Hütte macht sich unendliche Erleichterung breit, besonders, als per Funk irgendwann die Entwarnung kommt, dass man Wolfgang tatsächlich gefunden hat.

Den Rest vom Abend verbringen wir beim Kartenspielen – Sascha bringt uns nämlich ein russisches Kartenspiel bei. Nicht so ganz trivial, da der kleine Kerl kein Englisch spricht, aber dank Simons Kartenspiel-Blitz-Verstand läuft’s. Irgendwann kommt Anton wieder zurück und bestätigt, dass Wolfgang wieder wohlbehalten im Lager angekommen ist. (Hätt sich ja auch mal vorstellen können, nach der ganzen Aufregung… hihi.) Nun ist Schlafengehen angesagt und ich geh mir draußen die Zähne putzen.

Dabei kommt Anton mit jemandem angelaufen, dem er gerade mit Händen und Füßen versucht, etwas zu erklären. Anton spricht nämlich kein Englisch. Als er mich sieht, bittet er mich auf Spanisch, doch mal zu übersetzen (Spanisch war unser kleinster gemeinsamer Nenner – sehr praktisch). Das will ich gerade tun, da meint der andere Mensch, dass er Spanisch ja auch selbst verstünde. Zack, war ich meinen Job wieder los ;) Als Anton im Weitergehen anfängt, die Grundlagen des Lagers zu erklären, dämmert mir, wer da wohl grad vor mir stand. Eine Weile später kommt der Mensch alleine wieder vorbei – und so lerne ich Wolfgang doch noch persönlich kennen.

Tatsächlich war er am Lager einfach nur ein bisschen fotografieren gegangen. Ein Hügelchen weiter und noch eins und noch eins… In der Annahme, dass er sich aufgrund seiner Vergangenheit in Vulkangegenden sehr gut auskenne, dachte er sich nichts weiter dabei. Leider ist Kamtschatka eben doch anders und so hatte Wolfgang sich verlaufen, ehe er sich’s versah. 

Ein aufregender Tag – zum Glück mit einem guten Ausgang. Ach ja – und ein neues Sprichwort ist geboren: Mach mir ja nicht den Wolfgang! :)

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