Heute könnten wir eigentlich ausschlafen, denn wir haben das Frühstück erst zu acht Uhr bestellt. Da wir die einzigen Gäste sind, hatten wir die freie Wahl der Uhrzeit. Die Hähne, Hunde und Menschen der Umgebung machen uns jedoch einen Strich durch die Rechnung, denn das Leben startet hier pünktlich mit dem Sonnenaufgang und der ist gegen sechs Uhr. Auch heute wird das Aufstehen von heftigen Schmerzen in Knien, Waden und Oberschenkeln begleitet. Na toll – und das, wo erfahrungsgemäß der dritte Tag der Schlimmste ist.
Wir packen schon einmal alles fertig, füllen Wasser ab und sind zum Frühstück direkt startklar. Es gibt Baguette mit Butter und Marmelade und die übliche Getränkeauswahl. Gerade wollen wir unsere Rucksäcke schultern und starten, als es plötzlich laut wird hinter der Gite. Aha, einer der üblichen Helikopter-Touristen-Rundflüge, denken wir, denn davon wimmelt es hier nur so. Doch das Wehen der umstehenden Bäume und Palmen zeigt an, dass es sich hier wohl doch nicht um Touristen handelt, denn die landen üblicherweise nicht. Wir erleben live mit, wie der Hubschrauber auf der kleinen Wiese hinter der Gite landet, drei Leute aus dem Nachbarhaus einsteigen und der Hubschrauber eine Minute später wieder abhebt.
Eine andere Möglichkeit, „mal eben“ in die Stadt zu kommen, gibt es für die Menschen hier nicht. Auch die Versorgung der Dörfer in den Cirques mit Lebensmitteln und allem anderen (z.B. Baumaterial) erfolgt vollständig über Hubschrauber. Ein teurer Spaß, aber ziemlich alternativlos.
Wir starten unseren heutigen Weg mit dem Abstieg in die Schlucht und dem Aufstieg auf der anderen Seite. Nach einem kleinen Stück haben wir die Wahl, dem GR-R2 weiter zu folgen und über Les Orangiers nach Roche Plate zu laufen oder den direkten Weg zu nehmen. Auf der Karte sieht beides äußerst unfreundlich aus (viele eng gepresste Höhenlinien) und so fragen wir zwei Einheimische nach Rat. Beide sind sich darin einig, dass es auf jeden Fall nur drei Stunden bis Roche Plate wären (ist das hier eigentlich die Standard-Angabe, egal, wohin es geht?). Der zweite Kollege ist etwas auskunftsfreudiger und seinem ausgiebigen Redeschwall entnehme ich zumindest soviel, dass der direkte Weg der einfachere sei. Zumindest hoffe ich das, denn so ganz sicher bin ich mir mangels Französisch-Kenntnissen nicht. Wir starten also den weiteren Aufstieg zurück nach Grand Place Les Hauts (nehmen aber immerhin einen etwas anderen Weg als gestern). Nachdem die ersten paar hundert Höhenmeter geschafft sind (und wir übrigens auch), folgt der erste fiese Teil der heutigen Etappe, also eins der Stücke, an denen sich die Höhenlinien auf der Karte kaum noch voneinander unterscheiden lassen. Zu allem Überfluss handelt es sich um einen Abstieg. Wir stehen auf einer Bergkante und müssen hinunter zum Fluss, der sich unten durch das Tal schlängelt. Der Abstieg besteht auch noch aus losem Rollsplit und feinem Sand, so dass wir trotz Bergschuhen ständig ins Rutschen geraten und mehr als einmal haarscharf an der Kante landen. Irgendwann haben wir die Hälfte der Wand geschafft und werden wie immer durch grandiose Ausblicke belohnt.
Als wir den Abstieg endlich bewältigt haben, landen wir unten am Fluss, der sich herrlich frisch plätschernd in den schönsten Badegumpen ergießt. Leider ist aber der einzige schattige Platz bereits von ein paar Einheimischen belagert und ein Anhalten in der prallen Sonne geht einfach gar nicht. Schweren Herzens werfen wir einen letzten Blick auf das kühle Nass.
Wir queren den Fluss und beginnen auf der anderen Seite – was sonst – den Aufstieg. Vor uns liegt ungefähr so eine Wand wie die, die wir gerade abgestiegen sind und mir kommen erneut Zweifel daran, ob ich den Menschen heute Morgen tatsächlich richtig verstanden habe. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dies der einfachere Weg sein soll.
Auf dem Bild oben ist schön zu sehen, dass es hier einfach kein „eben“ gibt. Von rechts oben sind wir gekommen und in die Schlucht abgestiegen, nach links steigen wir wieder auf. Was wir an dieser Stelle noch nicht wissen, ist, dass wir nach dem Aufstieg selbstverständlich die Wand auf der anderen Seite wieder hinabsteigen – und wieder bis zu einem Fluss hinab. Aber so ist es halt – das Inselchen La Réunion.
Auf besagter anderer Seite der Wand an besagtem Fluss finden sich dafür ein paar schattige Badegumpen, in denen wir diesmal unsere schon recht platten Füße kühlen können. Da vor uns – was sonst – ein Aufstieg liegt, stärken wir uns gleich noch etwas und dann geht es weiter. Der Aufstieg zieht sich diesmal wie Kaugummi. Er nimmt und nimmt einfach kein Ende – aber irgendwie verwundert das kaum, wollen wir doch heute noch auf 1200 Meter. Als meine Kräfte (na ja, oder zumindest die Motivation) mich langsam zu verlassen drohen, sagt das GPS, dass es bis Roche Plate und damit bis zu unserer Gite nur noch wenige hundert Meter sind – Luftlinie, versteht sich. Leider zeigt sich auch hier das gleiche Spiel, wie wir es schon von gestern kennen… und so wird das Motto der Tour „so nah und doch so fern“.
Der weitere Weg verläuft zu unserer großen Erleichterung aber diesmal nicht noch einmal durch die Schlucht, sondern führt in einem großen Bogen außen drumherum und verläuft somit – na ja, was man hier halt „eben“ nennen kann.
Schließlich kommen wir nach Roche Plate und stürmen nach der gestrigen Erfahrung die erste Boutique auf unserem Weg. Mit einer riesigen Flasche Coke und einem Bier bewaffnet machen wir uns auf den weiteren Weg zu unserer Gite „Chez Merlin“ und finden unterwegs erstaunt nicht nur weitere Boutiques, sondern sogar eine Touristeninfo. Mit so ziemlich allem hätten wir hier oben gerechnet – aber damit ganz sicher nicht.
In der Gite bekommen wir unser Zimmer zugewiesen, das wir uns heute mit einem jungen Franzosen teilen, der bereits auf seinem Bett liegt und den Reiseführer studiert. Wir duschen erst einmal und kommen dann mit Kerstin und Dominic, einem sehr netten schweizer Pärchen ins Gespräch. Die beiden haben in den nächhsten Tagen den gleichen Weg vor wie wir und so werden wir uns sicher noch öfter über den Weg laufen. Der Besitzer der Gite bestätigt uns übrigens, dass wir tatsächlich den einfacheren Weg gelaufen sind. Der andere (über den GR-R2) sei zwar schöner, aber auch härter. Wie immer das gehen soll – wir fanden unseren Weg schön genug.
Das Abendessen verläuft witzig, denn ein älterer Franzose weiß allerhand Lustiges über seine Erfahrungen auf Réunion zu berichten. Zu essen gibt es als Vorspeise ein Erbsengratin und als Hauptgericht Axtmörderhuhn (Carrí vom Huhn). Zum Dessert gibt es einen Bananenkuchen, den man problemlos auch als Zement hätte verwenden können ;-) Ach ja, und einen Rhum Arrangé, versteht sich.
Nach dem Essen ist wie üblich recht bald Schluss und wir gehen alle schlafen – unser Zimmergenosse liegt bereits im Bett und wir schleichen uns möglichst leise hinein. Heute Nacht wünschen wir uns das erste Mal etwas dickere Decken, aber letztlich frieren wir nicht wirklich doll und schlafen trotzdem gut.
Gesamtanstieg: 1291 m
Gesamtabstieg: -678 m
Gesamtzeit: 08:05:07