Am Morgen hat Tanja schon wieder gezaubert. Es gibt einen warmen Brei (wir werden lernen, dass das hier einfach zum Frühstück dazugehört), frisches Obst und Syrniki (Сырники), frisch gebackene und sehr leckere Quarkteilchen. Nach dem Frühstück folgt die Kamaz-Einpack-Routine (jepp, wird uns auch in Fleisch und Blut übergehen), ein kurzes Briefing von Regina an Marias Info-Tafel samt Landkarte zur anstehenden Tolbatschik-Gegend und dann steigen wir wieder in den Kamaz.
Wir haben heute 56 km vor uns – ein Katzensprung, denken wir uns (ja ja, das wird sich selbstverständlich schon sehr bald als sehr dummer Irrglaube entpuppen). Ein Stückchen geht es noch auf der Schotterstraße entlang – und dann biegen wir ab. Jetzt fahren wir etwas, was mit gutem Willen noch als anspruchsvoller Fahrweg durchgeht – also eine von Schlaglöchern durchsetzte Fahrpur mitten im Birkenwald. Grob geschätzt Kategorie 6-7 auf der nach oben offenen Straßen-Skala. Genau wie von Regina angekündigt ändert sich damit die Bewegungsrichtung im Kamaz von „von-oben-nach-unten-holpern“ zu „von-links-nach-rechts-schaukeln“. Joa, das macht locker in der Hüfte… da singt die Bandscheibe doch glatt russische Volksweisen. Ach ja – wir haben übrigens noch etwa 40 km vor uns.
Nach einer kleinen Ewigkeit durchqueren wir ein riesiges trockenes Flussbett – bestehend aus schwarzer Lava-Asche. Schenja kennt ja seine Touris und so tut er uns den Gefallen und legt einen Fotostopp ein. Wir vertreten uns kurz die Beine, schießen zwei bis drei (tausend) Fotos und steigen brav wieder in den Kamaz. Kurz darauf folgt das zweite riesige Flussbett, durch das wir fahren. Nur dass dieses nicht mehr trocken ist, sondern ganz anständig Wasser führt. Macht schon Sinn, dass der Kamaz so etwa einen Meter Bodenfreiheit hat.
Ein Stückchen weiter biegen wir erneut ab – allerdings nur aus dem Grund, dass der eigentliche, ursprüngliche Weg nicht mehr befahrbar ist. Genau genommen seit fünf Jahren nicht mehr, seit nämlich 2012/13 der letzte Ausbruch des Tolbatschik hier einen Lavastrom erzeugt hat, der sich genüsslich über den Weg ergoss und selbigen unpassierbar machte. Jedenfalls, sofern man nicht über ein Gefährt verfügt, was mal eben eine zehn Meter hohe Wand hochfahren kann. Ha! Wir haben die Grenzen des Kamaz entdeckt!
Wir fahren also einen Umweg, der über einen damals hastig in den Wald gehauenen Weg einmal um das Lavafeld herum führt und für ein paar Extra-Kilometer sorgt. Wie schön – schließlich ist hier der Weg auch direkt nochmal unwegsamer (also ein Un-Weg) und wir erklimmen ungeahnte Höhen auf der nach oben offenen Straßen-Skala: hier sind wir sicher bei A12 bis A13 angekommen.
Gegen Mittag hat Schenja Erbarmen – vermutlich am meisten mit sich selbst, denn was er hier seit Stunden leistet, ist fast übermenschlich. Er legt eine Pause direkt am Lavastrom ein und wir gehen ein wenig Kraxeln. Fiese scharfkantige Lava fordert die Schuhe heraus – und natürlich Kleidung und Haut, sollten selbige versehentlich die Dummheit begehen, sich der Lava zu sehr zu nähern. Festhalten beim Kraxeln? Joa… kann man schon machen… mit Handschuhen ;)
Was neben der ganzen Lava, den vielen Birken und den herrlichen Blümchen überall natürlich nicht unerwähnt bleiben darf, sind die Millionen von Mücken, die hier lauern. Zur Pause steigen wir aus dem Kamaz aus und wundern uns noch, dass es kaum Mücken gibt. Tja – das hatte sich vier Sekunden später erledigt, als die erste Mücke ihre Brüder, Schwestern, Cousins, Schwippschwager und dann noch ein paar weiter entfernte Verwandte herbeigerufen hatte. Mückenspray? Ja! Mückennetz? Unbedingt! Aber was macht Frau wohl, wenn sie mal ins Gebüsch muss? Genau… da saßen noch ne ganze Menge andere Verwandte rum! Verdammt… schon mal nen perforierten Hintern gesehen? :)
Nein, kein Foto!
Nach dem Ausflug aufs Lavafeld hat Tanja im Kamaz bereits einen kleinen Snack aufgebaut und wir stärken uns ein wenig, bevor die lustige Fahrt weitergeht. Irgendwann ist es geschafft. Wir kommen zuerst wieder auf den ursprünglichen Weg zurück (yeah, A6-7) und verlassen dann den Wald und gelangen in eine weitläufige hügelige Lava-Landschaft. Wer jetzt denkt, dass es hier aussähe wie auf dem Mond, liegt damit gar nicht so falsch. Tatsächlich haben die Russen damals ihr geplantes Mondfahrzeug hier getestet.
Noch ein wenig später fahren wir durch den Toten Wald – von Wind und Sonne ausgebleichte tote Baumgerippe ragen hier zahlreich aus der Lava heraus. Gut, dass wir laut Regina hier dieser Tage noch einmal hinkommen, denn die Fotomotive drängen sich einem hier nur so auf. Aus dem Kamaz heraus fotografieren? Joa… kannste ja mal versuchen bei dem Geruckel ;)
Gegen halb vier erreichen wir dann tatsächlich unseren Lagerplatz für die nächsten drei Nächte. Ja, du hast richtig gelesen – wir haben die 56 Kilometer in flotten sechseinhalb Stunden zurückgelegt. Ok… man kann vermutlich eine Stunde Pause in Summe abziehen und dann isses ja eigentlich schon wieder ganz ansehnlich :)
Im Lager (ja genau, erst mal Kamaz ausladen) bauen wir nach einer Anleitung von Anton die uns zugewiesenen Zelte auf. Es handelt sich um angenehm große Dreimannzelte für jeweils zwei Peronen, mit ausreichend Platz für Gepäck im Vorzelt. Wir haben Glück mit dem Wetter, denn es nieselt nur mal kurz und ansonsten bauen wir die Zelte im Trockenen auf. In der Zwischenzeit hat Tanja uns eine Gemüsesuppe mit Würsteln gekocht und wir genießen etwas Warmes im Bauch. Noch dazu im Luxus einer großartigen Holzhütte.
Nach dem Essen unternehmen wir noch einen Spaziergang in der Umgebung, sozusagen zum Akklimatisieren. Unser Ziel sind ein paar Lava-Röhren, durch die man angeblich hindurch laufen kann. Der Weg dahin führt stetig auf und ab durch sanfte Hügel – natürlich besteht alles hier aus schwarzer Lava – und hier und da Birken und Büsche, die frühlingsgrün auf dem schwarzen Untergrund leuchten. Die Natur erkämpft sich bereits ihren Platz zurück. Mir wird nicht ganz klar, wie genau Anton sich eigentlich orientiert – rundherum sehen die Hügel praktisch alle gleich aus und dank Wolken am Horizont sind auch keine Berge als Orientierungspunkt zu sehen – aber er wirkt äußerst sicher und so laufen wir vertrauensvoll hinterdrein. Es soll unser Schaden nicht sein, denn nach einer Weile erreichen wir tatsächlich die erste Lava-Röhre. Und ja – man kann tatsächlich hindurch laufen! Da sie oben ein kleines Loch hat, entstehen sogar ganz witzige Fotos.
Anschließend gehen wir noch zu einer weiteren Lava-Röhre. Ansage hier von Regina: man kommt schon durch… so auf allen Vieren… und besser Jacken aus, weil die sonst leiden könnten… und Handschuhe an… und halt auf allen Vieren… und Gamaschen als Knieschoner nutzen. Prüfender Blick in die Runde (ja, so in Bauchhöhe) – gefolgt von der Feststellung, dass wir schon alle durchpassen müssten. Na ja, nun bin ich zwar nicht schwindelfrei, aber Platzangst hab ich nicht – also nix wie rein da. Ach ja – Stirnlampe mitnehmen nicht vergessen! Der Einstieg erfolgt über – genau – ein senkrechtes Loch im Boden. Tiefe? Nun… grob geschätzt… keine Ahnung. Höher als ich jedenfalls. Mindestens. Paar kleine Schrammen gibt’s schon beim Runterlassen, aber das kann ja einen jungen Padawan nicht abhalten. Einmal in der Röhre wird schnell klar, dass es genau in eine Richtung weitergeht. Zurück nach oben ist unmöglich – also vorwärts. Also… erst mal auf den Bauch legen. Dann vorwärts. Wir robben durch die Röhre und lachen uns schlapp, weil unsere Indianer-Anpirsch-Muskeln offenbar nicht besonders trainiert sind und wir uns ziemlich einen abbrechen. Aber wir schaffen es und hauen uns den Schädel (oder beliebige andere Körperstellen) nur ganz paar mal ein. An einer Stelle hat man sogar die Möglichkeit, sich leicht umzudrehen und Fotos der armen Mitstreiter zu machen, die sich hier nicht wehren können. Die letzte Herausforderung stellt dann der Ausgang der Röhre dar. Es geht nicht senkrecht, sondern waagerecht – und vor der Röhre ist ein kleiner Absatz. Tjaaa… jetzt heißt es, tollkühne Berechnungen anstellen. Was ist besser? Füße zuerst oder Kopf zuerst? Die meisten entscheiden sich für Kopf zuerst (schon auch irgendwie praktisch, weil der ja eh vorne ist). Da Jak vor mir damit am Ausgang einigermaßen zu kämpfen hat, versuche ich es andersrum. Dank lebensuntauglicher Kürze kann ich mich umdrehen und schiebe die Füße voraus. Na ja, war keine so richtig geile Idee. Irgendwer zog an meinen Füßen, um mich aus der Röhre zu ziehen. Den Rest erspare ich dem geneigten Leser… nur so viel: Kopf voraus war gar nicht so doof :)
Neben unserer Röhre ist noch ein weiterer Eingang, den man sogar stehend erkunden kann – und dahinter tut sich eine kleine Höhle auf. Außerdem finden wir noch ein kleines Höhlenmonster.
Nach diesem Abenteuer wandern wir zurück zum Lager, wo wir nach noch etwas Freizeit das Abendessen von Tanja kredenzt bekommen. Heute gibt es Kartoffelpüree mit Beef Stroganoff. Sehr lecker. Nach dem Abendessen gibt es das Briefing für den nächsten Tag – und da sich das ebenfalls zu einer alltäglichen Routine entwickelt, bekommt es von uns schnell den Namen „Abendgebet“ verpasst. Anton erklärt uns – mit Regina als Übersetzerin – dass für den nächsten Tag das Wetter toll sein soll und wir deswegen nicht morgen den Ausflug in die flachere Umgebung machen, sondern morgen direkt den Aufstieg auf den Tolbatschik wagen. Gutes Wetter am Berg muss man schließlich nutzen. Dann sagt er noch was von 1.400 Höhenmetern und zwölf Stunden Wanderung und mal sehen, wie viel Schnee liegt… aber das kann er ja ganz sicher nicht ernst gemeint haben. Oder…??