Es gibt Tage, die möchte man am liebsten aus dem Kalender streichen. Gestern war ganz klar einer davon. Ich hatte ja ob der Abwesenheit meiner Gasteltern die Aufgabe abgefasst, auf Angélica aufzupassen. Nach dem Mittagessen hatte sie mir gesagt, sie würde wohl noch mal für etwa eine Stunde wegen irgendwelcher Hausaufgaben losgehen und wäre aber voraussichtlich gegen vier wieder zurück zu Hause. Ich selbst war gegen halb vier eingetroffen und setzte mich dann hin, um auf sie zu warten. Ich hatte mir vorgenommen, ihr die Wahl zu lassen, ob wir kochen oder z.B. Pizza essen wollen. Der Opa hatte zu Hause allerdings ein paar Sandwiches fertig gemacht, die wir genauso gut essen könnten. Außerdem wollte ich mit ihr einkaufen gehen, denn der Kühlschrank war einigermaßen leer und Brot war, außer den fertigen Sandwiches, auch keines mehr da. Leider vergingen die Stunden aber, ohne dass Angelica wieder auftauchte. Nun ist es hier auf der Insel so sicher, dass tatsächlich auch kleine Kinder noch abends alleine durch die Straßen laufen können, aber so ganz geheuer war mir das Ganze dann doch nicht, hatte ich doch irgendwie die Verantwortung und wusste, dass sie sich nachmittags eigentlich nicht großartig draußen herumtreiben soll. Ich habe also kurz vor sechs Rick kontaktiert, damit er mich informiert, ob sie um sechs zu ihrer Englisch-Stunde auftaucht. Immerhin dazu gab es positives Feedback. Da danach kaum noch Zeit sein würde, einzukaufen (vom Kochen ganz zu schweigen), habe ich kurzerhand beschlossen, dass es die Sandwiches zum Abendbrot gibt und bin dann noch kurz Brot, Milch und ähnliches einkaufen gegangen. Mittlerweile hatte ich eine gehörige Portion Ärger angesammelt – einfach viel länger wegzubleiben als angekündigt, das hätte ich mir früher mal erlauben sollen. Und das, wo sie sogar ein Handy hat. Aber es kam natürlich noch besser. Kaum, dass sie vom Englischunterricht zurück und durch die Tür, drängt sie los zum Essen. Ich wundere mich gerade, was es damit jetzt auf sich hat (Carlos hatte mir doch extra Geld dagelassen und mir aufgetragen, davon zweimal Restaurant zum Mittag und dann noch etwas Brot, Milch und Saft zu kaufen), als sie meint, wir würden wieder zu dem Restaurant gehen, wo wir mittags schon waren, denn das hätte Carlos ihr vorhin schließlich am Telefon aufgetragen. Dazu kommt, dass sie schon wieder loslaufen und sämtliches Licht und das Radio anlassen will. Selbst auf meine Aufforderung, das Licht auszumachen, um den Strom zu sparen, reagiert sie mit Schulterzucken und der Aussage, dass das doch nicht notwendig sei. Ich werde also recht deutlich und mache das Licht dann selbst aus. Auf dem Weg zum Essen bin ich dann also richtig verärgert, was auch ihr nicht verborgen bleibt. Ich erkläre ihr, dass ich zu Hause gewartet habe, mir Sorgen gemacht habe, dass sie ihre Aussage weder revidiert noch eingehalten hat, dass ich eigentlich das Abendessen mit ihr besprechen wollte usw. Sie ergeht sich erst in Ausreden, warum sie nicht kommen konnte (sie war aus irgendwelchen technischen Gründen bei ihrem Cousin) und auf die Frage, warum sie nicht angerufen hat, sagte sie, sie hätte kein Guthaben mehr gehabt. Dass der Cousin kein Telefon zu Hause hat, hat sie mir dann zum Glück nicht mehr versucht, weis zu machen. Immerhin hat sie sich entschuldigt. Die Sandwiches lagen immer noch zu Hause herum, also habe ich sie fürs Frühstück erstmal in den Kühlschrank gestellt. Wieder zu Hause, leiht sie sich wieder einmal mein Netbook aus. Natürlich treibt sie sich nur auf Facebook und Co herum. Aber auch hier kommt es natürlich noch besser. Nach einer knappen Stunde fährt sie den Rechner herunter (es ist mittlerweise fast neun Uhr abends), duscht sich – und fängt dann an, Hausaufgaben zu machen! Ich dachte, ich guck nicht richtig. Aber auch hiermit ist des Tages Grausen noch nicht vollständig, denn als wir dann ins Bett gingen, beschloss sie plötzlich, dass wir nicht wie geplant in ihrem Doppelstockbett schlafen, sondern im Ehebett von Carlos und Ruth. Ich habe gefühlt dreimal nachgefragt, ob das ihr Ernst ist und warum wir nicht in ihrem Zimmer schlafen – aber es führte einfach kein Weg daran vorbei. Ganz großes Kino – Ehebett und nur eine Zudecke. So etwas liebe ich sowieso schon, wie viel mehr also erst mit einer quasi fremden 15-jährigen, auf die ich eh schon sauer bin. Und um die Katastrophe perfekt zu machen, kamen die beiden Hunde des Hauses auch noch mit ins Schlafzimmer. Die ganze Nacht über kämpfte ich also um meinen Anteil Decke, hatte Angélica wahlweise in meinem Rücken, halb auf mir drauf oder sonst wie in meinem Weg und die Hunde machten nicht nur permanent schmatzende Geräusche, sondern liefen auch noch herum und stanken. Nie wieder. Ich habe kaum ein Auge zugemacht. Kann ein Tag eigentlich viel schlimmer laufen?
Am Morgen ruft Carlos an – leider schon eine Viertelstunde, bevor der Wecker klingelt. Als der Wecker dann doch klingelt, stehe ich auf und frage erneut (wie schon am Abend vorher) nach meinem Handtuch, das seit dem Sonntagsausflug noch hier ist, weil ich duschen will. Angélica hat offenbar keine Lust, das Handtuch zu holen, das draußen noch zum Trocknen hängt und verweist mich an das eine große Handtuch, was seit meinem ersten Tag hier im Bad hängt und von dem ich mich bereits die ganze Zeit frage, ob es das Familienhandtuch ist, denn ein weiteres hängt dort nie. Als mir vermutlich ungläubig die Kinnlade runterklappt, merkt auch Angélica, dass das jetzt wohl zu viel war und geht mein Handtuch holen. Der Opa kommt zum Frühstück vorbei und schiebt immerhin noch die Sandwiches von gestern in den Ofen. Danach bin ich zwar immer noch gerädert, aber froh, aus dem Haus zu kommen und arbeiten zu dürfen.
In der Schule wird heute wieder viel gemalt. Auf die Art ist auch Lara glücklich bei der Sache und hat wieder Spaß an der Schule. Die Additionspyramiden, die es gestern als Hausaufgaben gab, kommen von fast allen Kids korrekt zurück – nur bei vier Kindern steht völliger Blödsinn in den Feldern, so dass ich ernsthaft bezweifle, ob hier die Kinder nicht rechnen konnten. Vielmehr vermute ich, dass die Eltern hier falsch interveniert haben (und sehe mich von den Eltern morgens bestätigt, die überhaupt keinen Schimmer haben, was ihre Kinder dort hätten tun sollen).
Im Laufe des Tages bringen wir den Kids noch ein Spiel bei, das Lara von zu Hause kennt und bei dem die Kids wie verrückt durch die Gegend rennen können. Dazu müssen wir sie zunächst geordnet in Gruppen aufteilen und anschließend einen Fänger in jeder Gruppe bestimmen (natürlich will ausnahmslos jeder Fänger sein). Kein ganz so einfaches Unterfangen mit der wilden Horde, aber irgendwann ist es geschafft und die Kids sind völlig happy, dass sie so herumrennen dürfen.
Anschließend sollen die Kids noch verschiedene Tiere nachmachen. Beim Affen tun sie sich etwas schwer, also soll ich ihnen den Affen machen. Na, wenn ich eins kann, dann mich zum Affen machen – und sofort kullern sich die Kids vor Lachen auf dem Boden und immer, wenn ich aufhören will, fordern sie eine Zugabe.
Nach der Schule sitze wieder noch eine Weile mit der Lehrerin zusammen und wir planen, wie wir den Kindern ein wenig Umweltbewusstsein beibringen können. Wir denken zum einen in Richtung Wasser (das Wasser, das hier aus dem Wasserhahn kommt, ist kein Trinkwasser, aber viele Leute scheren sich nicht darum) und zum anderen in Richtung Müll-Recycling (Mülltrennung wurde eingeführt, aber auch hier scheren sich viele nicht drum). Wir fangen mit dem Recycling an und machen einen mehrstufigen Plan. In Stufe eins wollen wir die Kids drei verschiedene Mülleimer gestalten lassen (bisher gibt es nur einen in der Klasse), damit sie ab sofort den Müll im Klassenzimmer trennen können. In Stufe zwei wollen wir ein wenig Theorie über das Warum der Mülltrennung besprechen und in Stufe drei eine Besichtigung der Recyclinganlage organisieren. Viel zu tun also.
Zum Mittagessen treffe ich mich mit Angélica wieder im Restaurant, wo wir für schlanke drei Dollar das täglich wechselnde Mittagessen bekommen. Heute gibt es sogar mal zwei Essen zur Auswahl. Aus mir völlig unverständlichen Gründen bestellt Angélica einfach mal so eine weitere Suppe, die sie dann den Hunden mitnimmt. Klar, ich zahle ja. Übrigens ist sie auch überzeugt davon, dass wir dann eben heute Pizza essen gehen, weil gestern ja nicht ging. Anschließend gehen wir nach Hause und ich frage sie, ob sie schon etwas von Carlos gehört hat – ich hoffe noch inständig, dass er heute schon zurückkommt. Hat sie aber nicht, und meine Hoffnungen schwinden, denn wenn er heute zurück käme, müsste er das Boot um 14:00 Uhr nehmen. Ich mache mich daher kurzerhand wieder auf den Weg – zuerst auf einen Kaffee ins Mockingbird (brauche ich heute wirklich) und anschließend ins ProjectsAbroad-Büro. Hier treffe ich wieder auf Rick, Natasja und Anders, aber auch zwei neue Volunteers (Theresa aus Deutschland und Nina aus Norwegen) sind da. Ich überzeuge gleich alle, uns am Mittwoch in die Recyclinganlage zu begleiten, damit wir genug Leute haben, die auf die Kids aufpassen können. Zwischendurch gehe ich mit Rick noch eine Bäckerei überfallen und wir gönnen uns ein paar süße Kalorien. Und weil Natasja später so nett fragt, begleite ich Anna (USA) und sie noch noch einmal ins Mockingbird und wir quatschen noch eine Runde bei zwei weiteren Kaffees.
Dann ist es Zeit, Angélica von ihrem Englischunterricht abzuholen und wir gehen Pizza essen im Calypso. Ein eher touristischer Laden, aber die Pizza soll die beste am Ort sein. Das ist an sich nicht schwierig, da es kaum Konkurrenz gibt – Pizza ist hier einfach nicht besonders beliebt. (Vielleicht würde sich das ändern, würde man die Pizza mit Reis belegen… ich muss über diesen Business Case noch mal genauer nachdenken.) Wir sitzen gerade beim Essen (Angélica hat keine Pizza bestellt, sondern isst Pommes – reisfreie Pommes), als Carlos anruft und offenbar verkündet, dass er erst am Freitag zurückkommen wird – ganz sicher ist sie sich allerdings nicht, denn die Verbindung wird unterbrochen, als sie das Telefon gerade an mich übergeben soll. Vermutlich ist ihm das Guthaben auf dem Telefon ausgegangen.
Ich beschließe, mir den Abend davon nicht verderben zu lassen und genieße meine Pizza Hawaii, die wirklich nicht schlecht ist. Gedanklich notiere ich, heute Anspruch auf das Doppelstockbett zu erheben. Nach dem Essen gehen wir noch kurz am Malecón spazieren und dann nach Hause. Dort fängt dann plötzlich und wie aus heiterem Himmel ein kleines Drama an. Zuerst ruft Ruth an und Angélica beschwert sich offenbar darüber, dass der Opa sich nicht um die Hunde kümmert und sie dadurch so viel zu tun hat und dass Carlos nicht genug Geld dagelassen hätte und überhaupt und sowieso. Daraufhin spricht Ruth mit dem Opa, der sich anscheinend (so berichtet Angélica hinterher) darüber beklagt hat, dass ich den ganzen Nachmittag nicht im Haus war und abends auch nicht und überhaupt. Kurz darauf erklärt mir der Opa, dass ich morgen Nachmittag zu Hause sein soll und wir dann mal einen Kaffee zusammen trinken. Ich versteh die Welt nicht mehr. Offenbar hat die ganze Familie ein größeres Problem damit, dass ich Angélica zum Essen eingeladen habe. Na, ich bin mal gespannt, was das morgen gibt. Irgendwie kann ich das Problem noch nicht greifen, was hier in der Luft zu hängen scheint. Das mit dem Doppelstockbett habe ich geklärt, aber die Lösung gefällt mir auch ganz gut. Ich schlafe weiter in dem großen Bett und Angélica dafür wieder in ihrem eigenen Bett. Na also, es geht doch. Dann schüttet sie mir noch eine Weile ihr Herz aus, weil sie nun scheinbar von allen Seiten Druck bekommt. Wie gesagt, ich komme aus dem Kopfschütteln nicht raus und bin gespannt, was morgen passiert.